André Dembele spricht mit den Toten. Er ruft ihre Namen in die Dunkelheit seiner fensterlosen Lehmhütte hinein. Sie sind die einzigen, die noch mit ihm reden. Die ihn nicht auslachen, weil er in der Einsamkeit die Worte vergessen hat, und er nur noch leise wimmern kann, unterbrochen vom Klappern der aufeinanderschlagenden Zähne.
Wenig trennt ihn von einem Toten. Bewegungslos hockt er in der Schwüle auf seinem Bett, inmitten von Exkrementen und schwirrenden Fliegen. Ein Skelett, das von Pergamenthaut überzogen ist, mit gelben Fingernägeln wie Krallen. Nur selten hebt sich das Tuch an der Türöffnung und er bekommt eine Blechschale mit gestampftem Maniok oder etwas Wasser hereingeschoben. Die Enkel hat er nie kennen gelernt, die Beerdigung des Vaters fand ohne ihn statt. So hungert er seit 20 Jahren in seinem Kerker.
Es war sein eigener Bruder, der ihm eine Eisenstange zwischen die Knöchel geschraubt hat. Sorgfältig fixiert mit zwei Manschetten, die längst von Rost überzogen sind. Er sei besessen, sind sie sich einig im Dorf, und fürchten sich vor den Dämonen, die den Kirchgänger, fleißigen Plantagenarbeiter und Familienvater in einen Unberechenbaren verwandelt haben. In einen, der andere schlug und sie anbrüllte, wenn ihn wieder eine psychische Krise belastete.
„Nehmt euch in Acht vor dem Verrückten“, warnen die Alten im Dorf Kemena in Burkina Faso, und die Jungen hören darauf. Schon die bloße Berührung eines Epileptikers, eines Schizophrenen, eines Manisch-Depressiven könne dazu führen, dass die teuflischen Geister überspringen auf die Gesunden, behaupten sie. Und deshalb machen sie in ganz Westafrika das mit den Kranken, was sie mit den Hunden niemals machen würden: Sie sperren sie zu Tausenden und Abertausenden weg, ketten sie an, schlagen sie mit Metallklammern in Holzstämmen fest. Die Verrückten gelten als Aussatz der Gesellschaft – eine soziale Isolation wie sie in früheren Zeiten auch in Europa weit verbreitet war und das nicht nur auf dem Land. Die Angst vor den Geisteskranken ist nichts Neues.
Der Tag der Hoffnung für André Dembele beginnt mit einem Wolkenbruch. Ein Donnern, das die Kinder zum Weinen bringt, Blitze, schäumende rote Erde, die Savanne ertrinkt im Regen. Der 49-Jährige, der aussieht wie ein Greis, weiß nicht, dass seine Retter nur noch wenige Stunden von seinem Verlies entfernt sind. Eine katholische Delegation aus dem Nachbarland Elfenbeinküste, mit Medikamenten im Gepäck und zu allem entschlossen.
Die Irren von den Ketten zu schneiden, trauen sich nur wenige. Sie zu berühren, gar zu umarmen und Tausenden eine neue Heimat zu geben, so verrückt ist in Westafrika nur ein einziger – Gregoire Ahongbonon. Ein Mann so stattlich wie ein Mangobaum. Ein ehemaliger Taxifahrer, der von seinem Glauben angetrieben wird. „Jesus ist mir auf der Straße begegnet“, erzählt der sechsfache Familienvater, „halbnackt, verwahrlost, in Gestalt eines Verrückten.“ Seither sammelt der Laienprediger und Direktor der katholischen Vereinigung St. Camille de Lellis die psychisch Kranken auf seinen Reisen ein, fährt im Geländewagen in die Dörfer und Städte, um der Kettenseuche ein Ende zu bereiten.
In einer Kapelle in Bouaké, der zweitgrößten Stadt der Elfenbeinküste, hat Ahongbonon bescheiden angefangen. Die Kranken schliefen neben dem Altar, Freunde steckten ihm Spenden zu. Das Projekt St. Camille ist längst gewachsen und die chronische Finanznot mit ihm, denn öffentliche Gelder gibt es nicht. Kleine Vereine in Deutschland, der Schweiz oder Kanada helfen nach Kräften. Doch manchmal geht sogar der Reis aus. Verteilt über das ganze Land betreibt der Afrikaner zehn Zentren, vier weitere im benachbarten Benin. Und in Burkina Faso hat er von der katholischen Kirche ein Grundstück geschenkt bekommen, das er bald bebauen will. Die Zentren sind Krankenstation, Ersatzfamilie und Zufluchtsort zugleich, in knapp zwei Jahrzehnten boten sie 15 000 Menschen Unterschlupf, momentan leben dort 1150. Nicht nur Maisbrei und Mangos gibt es kostenlos, auch die Medikamente, die der Psychiater verschreibt, werden umsonst verteilt. Wer kräftig genug ist, kommt in die Rehazentren, wo an Webstühlen oder in der Bäckerei gearbeitet wird. Andere gehen aufs Feld oder lassen sich in den Schneidereien ausbilden.
Immer wenn sein Handy klingelt, schaut Gregoire Ahongbonon der Jungfrau Maria in die Augen. Die hat er als Bildschirmschoner geladen. Und es klingelt ständig. Mal ist einer aus dem Justizministerium dran, der seinem Freund gratuliert, weil er einen Bericht über ihn im Fernsehen gesehen hat. Mal muss er Lebensmittelbestellungen koordinieren oder er erhält einen Tipp, wo sogenannte Prediger den Besessenen die Dämonen austreiben wollen.
Ihre Macht ist der Gebückten im blumigen Wickeltuch nicht anzusehen. Ein fester Händedruck könnte ihr die Knochen brechen, so scheint es, doch die Alte hat Kraft in den sehnigen Fingern. Genug um die Neuankömmlinge im Gebetszentrum des Dorfes Botro zu begrüßen, genug um anderen die Ketten anzulegen. Sie nennt sich Prophetin, ist Vertreterin der evanglisch-protestantischen Kirche CMA, die das Land mit ähnlichen Zentren flächendeckend überzogen hat. Die Alte verkündet, alles heilen zu können durch die Kraft der Gebete, Befreiungstänze und durch tagelanges Fasten: Aids, Krebs, psychische Erkrankungen aller Art.
Die Würde hat sie Marcellin Kouassi Kouadio genommen, die halb zerfledderte Bibel im Plastikumschlag hat sie ihm gelassen. Er hält sie fest umklammert in seiner Rechten, als wolle er Zuversicht aus ihr herauspressen. Mehr als das Buch, ein Laken und die Kleider an seinem Leib besitzt er nicht. Vor seinen Wutausbrüchen hat der 32-Jährige mit den sanften Augen Kühlschränke und Klimaanlagen repariert, jetzt sitzt er angekettet an einem Baum. Sein Vater, hilflos und gläubig, hat ihn hergebracht und wieder verlassen. Mit einer Plastikplane trotzt er den tropischen Sturzbächen vom Himmel, ein Eimer dient als Toilette. „Ich habe Hunger“, sagt er.
In den ersten Tagen hat Marcellin Kouassi Kouadio bis zur Heiserkeit geschrieen, weil er hoffte, dass ihn jemand im Dorf nebenan hören würde. Er hat sich in der Falle gewunden, am Eisen gezerrt und gezogen, bis er die Schmerzen nicht mehr aushielt. Es war ein ungleicher Kampf. Einer, bei dem der Verlierer von Anfang an feststand. Dann wollte er singen – auch das haben sie ihm verboten. Irgendwann in den zwei Monaten ist er stiller geworden.
„Ich liebe Gott“, flüstert er, als Gregoire Ahongbonon mit dem Schlüssel kommt und sich zu ihm auf den Bastmatte setzt. Ein Klick im Vorhängeschloss. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Apathisch steht er auf, schleppt sich Schritt für Schritt vorwärts, er muss das Gehen neu lernen.
Die Prophetin dreht sich weg, will nicht hören, was Gregoire Ahongbonon sagt. „Es ist gesetzlich verboten, Kranke an die Kette zu legen“, redet er ihr ins Gewissen. „Es ist ein Verbrechen so etwas im Namen Jesu zu machen“, schimpft er laut und seine Stimme erreicht auch die entfernteste Lehmhütte. Den Kranken am Arm, die Kette in der Hand will er das Gebetszentrum verlassen. „Die gehört uns, die haben wir bezahlt“, greift die Alte vergeblich nach der Eisenfessel. Sie grummelt wütend den Eindringlingen hinterher.
Die Pseudopropheten wollen sich nicht das Geschäft vermasseln lassen. Sie kassieren fürs Beten. Sie nehmen die Familien der Kranken aus, profitieren von deren Überlastung und Ängsten. Die Angehörigen sind froh, die Unheilbringer in vermeintlich segensreiche Hände geben zu können und verschulden sich hoch, um die Sektenchefs zu bezahlen.
Die Begrüßung ist stürmisch, als der Geländewagen am späten Nachmittag im Empfangszentrum in Bouaké ankommt. Drei Bewohner fallen Ahongbonon um den Hals, einer klatscht vor Freude in die Hände. Der Chef von St. Camille hat viele Gesichter. Für manche der Kranken ist der 57-Jährige ein Vater, einer, dem sie blind vertrauen. Aber Ahongbonon ist auch Spendensammler. Er geht mit einer schweren Eisenkette in einer Plastiktüte auf Vortragsreisen nach Kanada, Frankreich oder nach Deutschland, wo ein Reutlinger Freundeskreis ihn unterstützt. Er wurde beim Entwicklungsausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel vorstellig oder nahm einen Menschenrechtspreis der Stadt Padua entgegen.
Für Gregoire Ahongbonon ist es eine Heimkehr, für Marcellin Kouassi Kouadio ein Neuanfang. Der Befreite wird von emsigen Händen vom Geländewagen gehoben, gewaschen, geschoren und neu gekleidet. Die Schüssel Reis und ein Becher Wasser sind seine erste Mahlzeit an diesem Tag. Aufrecht sitzt er auf einem Stuhl im Empfangsbüro, wo ihm Gregoire den Arm um die Schultern legt. „Du bist schön“, sagt er ihm ins Gesicht und schaut ihn lange an. Kouadio blickt traurig zurück. Er sagt nichts, legt sich in einem der Gruppensäle schlafen.
Fast alle in den Zentren wissen, wie es sich anfühlt, wenn sich die Kette strafft. Sie haben die Stimmen im Kopf gehört, sie kennen das Gefühl, wenn sich der Körper in einem Anfall zuckend aufbäumt. Die Helfer, die Pfleger, die Köchinnen, die meisten von ihnen sind ehemalige Kranke. Auch der Leiter des Männerzentrums, der nicht nur das Büro managt, sondern auch abends im Schlafsaal nach dem Rechten schaut. Zehn Jahre lag er im Eisen, darüber spricht er offen. Seine Freundin, mit der er einen Sohn groß zieht, war in Gefangenschaft über Monate vom eigenen Cousin missbraucht worden. Sich zu wehren, hätte es nur schlimmer gemacht, erzählt sie. Wer glaubt schon einer Verrückten, wenn sie andere beschuldigt. Es könnte alles erfunden sein. Für die Peiniger sind Frauen am Eisen leichte Beute.
Eine Heimat auf Zeit soll St. Camille sein. Doch zurück in die Familien schaffen es nicht alle. Manche sabbern auch nach Jahren noch dumpf vor sich hin und werden wohl für immer in Ahongbonons Obhut bleiben. Sie reißen sich Tag für Tag die Kleider vom Leib, stopfen sich Sand in die Münder. Vergessen von den Angehörigen. Andere erholen sich rasch. Sie arbeiten in der Küche mit, können den Hof fegen oder sich um die Schwächeren kümmern. Nach einigen Monaten, mitunter nach Jahren werden sie wieder in ihre Dörfer gebracht. In katholischen Krankenstationen erhalten sie alle paar Wochen Medikamente und einen Piekser in den Po – die Depotspritze mit Psychopharmaka nimmt ihnen die Wahnvorstellungen.
Ein Kranker ist nachts über die Mauer des Empfangszentrums geklettert. Ahongbonon schickt kurz nach Sonnenaufgang einen Suchtrupp los, um den Verwirrten einzufangen. Er selbst hat keine Zeit, er muss in das Dorf Assalé Kouassikro im Osten des Landes. Eine junge Frau namens Veronique wird dort gefangen gehalten, hat ihm ein neuer Patient berichtet. Ahongbonon setzt sich in den Geländewagen. Mit Tempo Hundert schanzt er über die Schlaglöcher im Asphalt.
Wie ein Schmetterling aus einem Kokon schält sich Veronique aus ihren Bastmatten heraus. Sie will die Besucher besser sehen. Erst der Kopf, dann fühlergleich zwei dürre Arme, der ausgehungerte Rumpf. Sie zieht sich das hochgerutschte Baumwolltuch über die Scham, fasst sich an den Ohrring aus Plastik.
Ihre Feinde sind die lachenden Kinder, ihr Schutz ist der riesige Baum, dessen faltige Wurzeln ihr als Behausung dienen. In eine Mulde zwischen den Ästen macht sie ihr Geschäft, in einer anderen liegt der Müll – ausgetrocknete Mangoschalen, Plastikreste. Gleich daneben ist die Kette eingeschlagen, an der Veronique schon lange nicht mehr zerrt, drei Jahre hängt sie daran. Sie nimmt einen Stein in die Hand, droht damit auf die Kinder zu werfen, die im Kreis um sie stehen. Ein schrilles Lachen. Sie lässt sich auf die Matten fallen und verkriecht sich wieder darunter.
Die Autorität des Dorfes ist der Heiler und der ist verreist. Er habe Veronique an den Baum gebunden, nur er könne sie freigeben, erklären die Ältesten. Sie sind aufgebracht, weil Fremde im Ort sind, weil Gregoire Ahongbonon den Heiler um seine Einnahmequelle bringen könnte. Denn für die Behandlung mit Pflanzen und Talismännern, mit wundersamen Kräutern und Zaubersalben müssen die Angehörigen jeden Monat bezahlen. Es hilft kein Drohen und kein Reden, die Männer bleiben stur und Veronique am Baum. Die ganze Heimfahrt über schweigt Ahongbonon schlecht gelaunt vor sich hin.
Es sind die Erfolge, die dem Befreier der Kettenmenschen über solche Tage hinweghelfen. Die Geschichten derer, für die es eine Zukunft nach der Gefangenschaft gibt. Für Menschen wie Monique Brou N’Goran, eine betagte Dame in weißer Bluse und Goldkette, die Ahongbonon zwei Tage später zuhause besucht. Ihr Geschäft an einer der Nebenstraßen in der Hauptstadt Yamassoukra läuft nicht schlecht, die 63-Jährige verkauft Palmöl in einer kleinen Holzbude. Manchmal klettert eine ihrer Enkelinnen auf ihren Schoß oder ihre Tochter ruft sie zum Mittagessen in die gemeinsame Wohnung.
„Mir geht es gut“, versichert sie mit einem schüchternen Lächeln und ist froh Gregoire Ahongbonon wieder zu sehen. Er bringt ihre eine Tüte mit Medikamenten. Die spritzt sie seit dem Tag vor sieben Jahren, als sie aus einem Gebetszentrum befreit wurde.
Die rote Schaumkrone auf dem Sand ist wieder verschwunden, der Himmel ein strahlend blaues Lachen. Es staubt, als ob es nie geregnet hätte, als wären die Seen nichts anderes als eine Fata Morgana gewesen. André Dembele, der Mann, der mit den Toten redet, schaut ungläubig auf das Stemmeisen, das in seine Hütte getragen wird. „Tut mir nicht weh“, fleht er und kneift die Augen zusammen. Es ist ungewöhnlich hell in der Hütte, der Vorhang am Eingang ist zurückgeschlagen, die Eisenstange auf den Boden gefallen. Kurz zögert er noch, dann steht er auf und schwankt in die Freiheit.
Unterstützen
Sie uns
Sie uns
Mit Ihrer Spende und Ihrem Engagement machen Sie unsere Arbeit erst möglich.
„Man kann den Menschen nicht auf Dauer helfen, wenn man für sie tut, was sie selbst tun können und sollten.“